Die Balkone des Balkan
Wo ist der Balkan? Wie groß ist er? Welche Länder gehören dazu? Und was trinkt man dort für Weine? Schluck-Autor und Osteuropaexperte Jürgen Schmücking ist in sein altes schwedisches Auto gestiegen und an die Ränder des zentralen Balkans gefahren. Was er im Kofferraum mitbrachte, hat unser Fernweh befeuert.
Jovan Cvijić hatte nichts mit Wein am Hut. Er war weder Winzer, noch Händler, noch Wirt. Er war Geograf. Nicht irgendein Geograf: Cvijić war als Geograf auch einer der Präsidenten der serbischen Akademie der Wissenschaften (die viel später, im jugoslawischen Bürgerkrieg der Neunzigerjahre, eine unrühmliche Rolle spielte und ihren Ruf ruinierte) und als Nationalist Leitfigur aller Balkanforscher. Das ist er bis heute.
Er erforschte den Boden des Karsts ebenso gründlich, wie die Ethnographie der Balkanhalbinsel. 1917, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, wurde Cvijić von der serbischen Regierung beauftragt, die Grenzen eines künftigen Jugoslawiens auszuloten und festzulegen; ein Jahr später war er serbischer Chefverhandler in Grenzfragen bei den Friedensverhandlungen in Versailles. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Cvijić eine Schlüsselfigur im gebeutelten Europa am Beginn des 20. Jahrhunderts war.
"Am Balkan aß man vielfältig und gut, wie Gott in Frankreich. Oder vielleicht sogar besser."
Er hat auch den bis dato ungenauen Begriff „Balkan“ definiert. Dass die Balkanhalbinsel im Osten, Süden und Westen vom Schwarzen Meer, der Ägäis und der Adria begrenzt ist, steht außer Frage. Strittig ist, wo der Balkan im Norden und Nordwesten aufhört.
Diese Frage ist für unser Vorhaben, die Winzer und Weine der länderübergreifenden Großregion näher anzusehen, nicht unerheblich. Für Cvijić galt die Grenze zwischen Alpen und dem Dinarischen Gebirge. Also etwa das Isonzo-Tal im Friaul oder das Vipava-Tal im Südwesten von Slowenien.
Nach Osten hin bildet das Balkangebirge die Grenze. Humorvolle Deutungen besagen, dass der Balkan am Wiener „Rennweg“, beginnt, an der Ausfallstraße Richtung Südosten. Und Slowenien will sich freilich auch heute noch nicht als Teil des Balkans begreifen und lehnt die Zuweisung - nicht ohne Grund - strikt ab.
Begeben wir uns gemeinsam auf den Balkon zweier Regionen entlang dieser von Cvijić definierten und im Südslawischen als gültig eingetragenen Balkan-Grenze. Zuerst nach Bulgarien, in die kleine Stadt Melnik (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Weinbauort im Norden Tschechiens). Und danach an die kroatische Küste des nördlichen Istriens - die Gegend unterhalb des italienischen Hafens Triest. In beiden Gegenden finden wir Winzer, die sich mit Passion und Enthusiasmus den Rebsorten und Traditionen ihrer Heimat verschrieben haben.
Der Balkon im Südostflügel:
Melnik / Bulgarien
Mit Bulgarien verbinde ich – bezogen auf Wein – eine bedenkliche Erfahrung. 2004 eröffnete ein österreichischer Geschäftsmann eine Vinothek mit österreichischen Weinen in Sofia. Das Geschäft ging anfangs gar nicht schlecht. In Sofia war damals Aufbruchstimmung - wie überall am zur Europäischen Union strebenden Balkan. An allen Ecken und Enden wurde gebaut und Geschäfte und Restaurants waren gut besucht.
Ein paar Monate nach der Eröffnung kam der Eigentümer auf die Idee, nicht nur österreichischen Wein in Bulgarien zu verkaufen, sondern auch bulgarischen Wein nach Österreich zu exportieren. Und ich sollte die Weine auswählen, die ihren Weg nach Österreich finden würden. Über 500 Weine habe ich verkostet, doch waren damals vielleicht zwanzig dabei, die außergewöhnlich, gut, markant und spannend waren.
Die durchschnittlichen, teilweise sogar fehlerhaften und so für den Export untauglichen Weine kamen dabei vor allem von den kleineren Winzern, die akzeptablen, doch oft belanglosen Weine von größeren Kellereien, die zwar – ganz in postkommunistischer Manier – mit amerikanischem Geld und französischem Know-how arbeiten, vor gut 15 Jahren aber noch nicht in der Lage waren, Weine zu produzieren, die Trinkvergnügen machten. Das Fazit: Internationale Rebsorten, internationale Stilistik, fruchtig, unkompliziert, langweilig - aber günstig.
Es gibt in Bulgarien zwei rote, interessante autochthone Rebsorten. Sie heißen Mavrud und Melnik. Mavrud kommt vorwiegend aus den Weingebieten rund um Plovdiv und Assenovgrad. Melnik kommt aus Melnik. Melnik zeichnet für einen subtilen, gleichzeitig kraftvollen Wein verantwortlich, die Sorte ist interessanter als Mavrud.
Melnik ist die kleinste Stadt Bulgariens. Sie liegt an der Grenze zu Griechenland, also an der so genannten Balkanroute der Flüchtlingsbewegung, und ist klimatisch (wie auch fremdenpolitisch) einer der heißesten Flecke des Landes. Rund um Melnik verteilen sich die Weingärten des Struma-Tals.
Die sortenspezifischen Charakteristika der Weine aus Melnik sind Gerbstoff, Druck und Farbe und sie riechen und schmecken nach Dörrobst und eingekochtem Pflaumenröster. Das kommt vor allem vom Handwerk der Winzer, die diese Weine traditionell eine Spur oxidativer ausbauen Eine Ähnlichkeit zu Madeira ist nicht zu leugnen.
Hervorragende „Melniks“ werden am Weingut Villa Melnik, gegründet 1994, in Harvoso gemacht - einem Nachbarort von Melnik. Nikola Zikatanov werkt hier, ein echter Tüftler. Im Sortiment sind alle drei Klone der Rebe. Melnik, Breite Melniker Rebe und Melnik 55. Die Namen sind ähnlich, die Trauben auch, doch die Unterschiede sind frappant.
Melnik ist der einfachste der drei Klone, gut für unkomplizierten Trinkspaß, fruchtig, nicht zu kräftig und die Oxidationsnoten liegen noch unter der Wahrnehmungsschwelle. Die Breite Melniker Rebe (‚Breit’ bezieht sich dabei auf die Größe der Blätter am Stock) ist dagegen schon eine Spur rustikaler: Waldboden, Leder, Tabak. Noch intensiver werden diese Noten dann beim Melnik 55: schwarzer Pfeffer, noch mehr Kraft, wieder Tabak. Aber auch mehr Harmonie und Milde, weil diese Weine meist für längere Zeit in Eichenfässer wandern.
Über die meisten bulgarischen Massenweine sagt Nikola: „Ich glaube nicht daran, dass wir die weltweiten Weinmärkte mit bulgarischem Weinen erobern können, die aus französischen Rebsorten gemacht, in französischen Fässern gereift und von französischen Önologen vinifiziert werden“.
Doch auch in seinen Weingarten stehen immer noch Reihen mit Viognier, Chardonnay und Merlot. Und auch in seinem Keller liegen immer noch Fässer aus Allier-Eiche. Die neue Ziel- und Marschrichtung steht aber fest: Konzentration auf Weine aus autochthonen Sorten unter Verwendung von Fässern aus dem Holz bulgarischer Wälder. Home sweet Home, Balkan sweet Balkan.
Der Balkon im Nordwestflügel:
Vipava und Brda / Slowenien
Es ist mir eine lieb gewonnene Angewohnheit geworden, vor einer Reise historische Reiseberichte der zu bereisenden Gegend zu lesen. Zum einen befriedigt das mein tief sitzendes Bedürfnis, in alten Bibliothekssälen und Antiquariaten herumzuhängen und in verstaubten Büchern zu schmökern.
Zum anderen bereitet es auch auf die Reise vor - besser, als jeder Reiseführer neueren Datums das vermag. Vor der Fahrt in die Weinberge von Brda, Karst, Istrien und dem Collio fand ich in einem von Lojze Wiesers herrlichen Büchern einen Hinweis auf Paolo Santonio, der die Gegend vor knapp 600 Jahren bereiste.
Seine Erlebnisse klangen vielversprechend: „Hier werden sieben Gänge im Ortsgasthaus serviert, darunter gekochte Birnen, gebratene und gedünstete Fische sowie drei Sorten Wein in Silberbechern: Malvasier, Friulaner Wein und Rebolio. Nach der Weihe kommt eine ordentliche Stärkung auf den Tisch. Kutteln, dazwischen bester Rebolio zur Verdauung, gedünstete Kapaune und Rindslende mit rohem Zwiebel.“ Am Balkan aß man also vielfältig und gut, wie Gott in Frankreich. Oder vielleicht sogar besser.
Eine Region, in der gastronomische Kultur und Tradition so tief verwurzelt sind, wird auch 600 Jahre später ein kulinarisches Erlebnis sein. Es gibt immer noch Malvasier, Friulano und Rebula. Lediglich die Schreibweise hat sich geändert. Der Friulano machte ein paar Jahrzehnte lang als Tocai Karriere, wogegen sich aber die Ungarn gewehrt haben und ihren berühmten Süßwein Tokajer unter den patentrechtlichen Schutz des Brüsseler Amtsschimmels stellten.
„After two glasses you'll realize, there is rock'n roll inside“
Manche istrischen Winzer drehen den Spieß – oder besser das Wort – einfach um und nennen ihren Tocaj jetzt Jacot. Andere – weniger streitbare - sagen einfach wieder Friulano zu ihm. Rebolio wurde zu Rebola, Rebula oder Ribolla. Selbstredend gibt es auch heute noch sensationell gute Kapaune und so gut wie jeder Landwirt, egal, ob er Wein, Getreide oder sonst was anbaut, hat getrockneten Schinken im Keller hängen.
Auch in der Art, wie die Weine gemacht werden, haben sich in den letzten Jahren tradierte Herstellungsweisen durchgesetzt. Die Weißweine mit langem Schalen- und Luftkontakt unterscheiden sich von allem, was man sonst als jugendlich-frischen, spritzen Wein kennt. Mehr Gegenteil geht nicht! Hier entstehen kompakte, tiefgründige, feingliedrige und extravagante Weine. Ein paar Beispiele gefällig?
Erstes Beispiel ist das Weingut Batič in Šempas in der Region Primorje, genauer gesagt im Vipava-Tal. Den Verkostungsreigen eröffnet Ivan Batič gern mit einer Überraschung. In einem besonders schönen Glas wird Schafgarbentee serviert. Blind natürlich. Es geht dem smarten Winzer dabei gar nicht um Geschmack; es geht ihm vielmehr um den Moment, in dem er verschmitzt lächelnd sagt, dass wir gerade mit einem seiner Spritzmittel angestoßen haben. Biodynamie pur.
Das Flaggschiff des Weinguts heisst Angel und ist eine Cuvée aus sechs Rebsorten. Pinela, die anspruchsvolle weisse Sorte, die auf eine lange Tradition im Vipava-Tal zurückblicken kann, bildet mit 40 Prozent das Rückgrat des Weins und liefert Subtilität und Eleganz. Dann folgen mit je 20 Prozent Cuvée-Anteil Chardonnay und Malvazija (für eine Portion Substanz), danach noch Rebula und Laski Rizling (Welschriesling), die für Frische und Trinkvergnügen sorgen und schließlich ein paar kleine Anteile der beiden autochthonen Rebsorten Zelen und Vitovska. Der Wein strahlt eine fast schon beängstigende Ruhe aus. Aber Achtung: „After two glasses“, sagt Ivan in kernigem Englisch, „you`ll realize, there is rock’n roll inside“.
Das zweite Beispiel befindet sich über der Bucht von Izola. Hier sind die Weingärten von Uroš Rojac und seiner Frau Sonja. Die Weissweine des Weinguts sind exzellente Beispiele für Kreatonen, die mit langen Maischestandzeiten und langer Lagerung zur Vollendung kommen.
Darüber hinaus gibt es bei den Rojac aber auch saftige Rotweine, die so viel Reifepotential haben, dass jetzt gerade einmal der Jahrgang 2005 ausreichende Trinkreife andeutet. Und das auch noch aus Refosc (Refosko), die nicht als Königin der lokalen Rebsorten gilt, aber in guten Händen für wirklich Großes geradestehen kann. Uroš Top-Refosc heißt Renero. Der Wein ist biologisch zertifiziert, was aber, kennt man die Weingärten, keine große Kunst ist.
Die Reben stehen an den Küstenhängen, die zur Bucht von Izola führen. Vom Meer her weht ein leichter, aber konstanter Wind, der die Weinstöcke gut durchlüftet und sie vor den klassischen Rebkrankheiten wie Mehltau und Botrytis schützt. Der Renero wird spontanvergoren, reift über drei Jahre in bosnischer Eiche und wird dann unfiltriert in die Flaschen gefüllt. Im Glas entdeckt man sein schon strahlendes Rubinrot, er riecht nach tiefdunkler Schokolade und reifen Kirschen und hat dabei immer diesen erdig-derben Unterton, der ihm den rustikalen Charme verleiht.
Es sind vier Details, die all diese Betriebe gemeinsam haben. Sie sind tief in ihrer Heimat verwurzelt und machen Weine, die diese Verbundenheit reflektieren. Sie verwenden traditionellen Techniken und fast ausschließlich regionale Rebsorten. Und jetzt stehen sie vor den Toren unserer Märkte und klopfen an. Auf Messen, bei Präsentationen und bei Wettbewerben. Wir tun uns selbst einen Gefallen, wenn wir die Gläser hinhalten und zu trinken beginnen. Es ist der erste Schluck in eine vergessene Welt der Vielfalt.